Es ist kalt in Berlin. Auf die Schlüsselübergabe müssen wir noch eine halbe Stunde warten, also gehen wir ins nächstbeste Café – eigentlich ein winziger Bäckereiladen mit drei Tischen und einer sehr resoluten Chefin. Hier führen die Frauen das Regime. Die Chefin amüsiert sich darüber, dass Dany „Kipferl“ zum Hörnchen sagt und neckt ihren einzigen männlichen Stammgast: einen gutmütigen, etwas trägen Berliner, der die Hänseleien stoisch über sich ergehen lässt. Die kleine Enkelin der Chefin ist noch direkter: „Alle Männer sind blöd“, verkündet sie. Aber sie will uns dann doch nicht gehen lassen, versperrt uns den Weg. Wir würden ja gerne noch bleiben, eintauchen in das „Berliner Milieu“, aber wir müssen den Schlüssel für unsere Wohnung abholen.
Auf unserem Stadtplan, ist das Haus, in dem wir wohnen werden, noch als „Altersheim“ bezeichnet. Es ist ein brutalter Betonbau aus den 1970er Jahren. Die Gänge sind lang und dunkel und mit Brandschutztüren unterteilt. Jeder Gang hat seinen eigenen Geruch, und jeder riecht auf seine eigene Art muffig. Wir fühlen uns an den Horrorfilm „Suspiria“ erinnert, der – richtig – im Berlin der 1970er Jahre spielt.
Unsere Wohnung liegt im vierten Stock. Das ist ganz oben, direkt unterm Dach. Der Lift hat aber auch Knöpfe für einen fünften, einen sechsten und einen siebenten Stock. Ich will wissen, wo man da hinkommt. Aber Dany hat auch „Suspiria“ gesehen und verbietet mir, auf die Knöpfe zu drücken.
Die Badewanne unserer Wohnung hat Haltegriffe und eine Alarmschnur. Erinnerungen an die Zeit, als das noch ein Alterswohnheim war. Ansonsten ist es hier erstaunlich gemütlich, karg und mit viel Rosa eingerichtet und –im Unterschied zu den Gängen – sehr hell. Vom Balkon aus sieht man direkt in den Charlottenburger Schlosspark. Heute ist es neblig. Morgen liegt Schnee, und am Tag darauf scheint die Sonne. Drei Jahreszeiten in drei Tagen.
Ben Wagin ist Künstler, will aber nicht so genannt werden. Er wohnt in einem alten Haus im Tiergarten, direkt an der S-Bahn. Dany klingelt einfach an der Haustür und wir werden sofort eingelassen. Es ist dunkel in der Wohnung. Dunkel und überfüllt mit Kunstobjekten und Fundstücken, wobei man die einen kaum von den anderen unterscheiden kann. Von der Decke hängt ein Sessel und die Hocker muss man erste leerräumen, bevor man sich auf sie setzen kann. „Wie lange haben wir einander schon nicht mehr gesehen?“, fragt Ben. Wir haben einander noch nie getroffen – wissen erst seit gestern, dass es Ben überhaupt gibt. Er ist – besser: war – eine Berliner Institution. Hat mit jedem diskutiert – sei es mit dem Oberbürgermeister, sei es mit der Nachbar in der Kneipe ums Eck. Einmal hat er angeblich sogar mit Gorbatschow im Kreml telefoniert – und als Gorbatschow in Berlin war, hat er ihn dazu gebracht, eine „Baumpatenschaft“ für sein „Parlament der Bäume“ zu übernehmen.
Das „Parlament der Bäume“, das ist eine freie Fläche an der Spree, direkt gegenüber dem Rechstag, aufgepflanzt mit Bäumen. Hier stehen Reste der Berliner Mauer, von Ben bemalt und ein paar weitere eigenwillige Kunstwerke. Ben wollte hier ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt schaffen. Verglichen mit dem aalglatten, klinisch sauberen Regierungsviertel scheint dieses kleine Stück Land aus der Zeit gefallen zu sein. Vielleicht steht es deshalb unter Denkmalschutz.
Ben ist fast 90 Jahre alt. Er scheint sich aufrichtig über unseren spontanen Besuch zu freuen. Er wirkt fast dreißig Jahre jünger als er ist, trägt Jeans und eine Glatze und redet lieber als dass er Fragen stellt. „Die Stadt sei Krieg gegen die Natur“, sagt er. Die Leute würden in „Karnickelställen“ wohnen, und das Beste, was die Menschheit tun könne, sei, auf Nachwuchs zu verzichten. So wie er es gemacht habe.
Ben hat uns gesagt, was er sagen wollte und wird etwas milder. Er zeigt uns ein „Selbstportrait“, an dem gearbeitet hat, als wir bei ihm geläutet haben: ein Stück poliertes Wurzelholz, das er in einen Basaltbrocken von der Form eines holländischen Holzschuhs steckt. Auf dem Tisch liegt außerdem der knallrot lackierter Schädel eines Wildschweins und Fotos seines „Weltenbaums“ – das erste Mural Berlins, auf die Feuermauer eines Wohnhauses gemalt und heute von einem Neubau verdeckt.
In Schöneberg schneit es. Wir erholen uns im ebenso unscheinbaren wie legendären Café „M“, in dem einst Nick Cave seinen Kaffee getrunken und auf die allzu selbstbewussten Frauen Berlins geschimpft hat.
Der Naturpark Schöneberger Südgelände war einst ein Rangierbahnhof. Jetzt ist er Teils Wildnis, teils Open-Air-Galerie. Neben den Wegen sieht man noch die Gleise, eine alte Dampflok steht herum und eine Drehscheibe, die sich nicht mehr dreht. Wir schauen uns am Sonntagmittag das Theaterstück „Hirundo rustica – die Rauchschwalbe“ an. Ein Tiertheaterstück nach Brehms Tierleben dargeboten von Fräulein Brehm. Fräulein Brehm ist eines von vielen Fräulein Brehms, die mit Theaterstücken über Tieren durchs Land ziehen. Unser Fräulein Brehm spielt äußerst professionell, obwohl im Publikum nur drei Personen sitzen – uns eingeschlossen. Selbst Dany, die ja Biologie studiert hat, ist beeindruckt.
Am Abend sehen wir in der „Schaubude“ (nicht zu verwechseln mit der „Schaubühne“) ein Figurentheaterstück über einen Radio-DJ, der eine nächtliche Sendung moderiert von den Gespenstern seiner Erinnerung heimgesucht wird. Das alles wirkt für uns sehr laienhaft, aber die Stimmung im Foyer nach der Aufführung ist sehr entspannt. Ich beklage den mangelnden Spannungsbogen und erst als wir auf dem Weg nach Hause das Programmheft durchblättern, kommen wir drauf, dass es ein Stück über Genderrollen war. Das hätte man uns auch früher sagen können.
Und dann natürlich T. C. Boyle. Der Grund, warum wir überhaupt Berlin als winterliches Reiseziel ins Auge gefasst haben. T. C. Boyle, der große US-amerikanische Erzähler, stellt seine neues Buch „Das Licht“ im großen Sendesaal des Rundfunks Berlin Brandenburg vor. Dany ist großer T. C. – Boyle-Fan, und ich auch so ein bisschen. Im neuen Buch geht es um LSD, um Albert Hofmann und um Timothy Leary. Das Publikum ist schlecht angezogen – so wie wir – und besteht aus Bibliothekarinnen und Deutschlehrerinnen. T. C. ist der einzige Punk unter Bildungsbürgern. Nach der Lesung lassen wir uns brav unser Buch signieren und wechseln ein paar Worte Smalltalk mit T. C.