
Jedes Jahr um Weihnachten, in der Zeit der so genannten Raunächte, nehme ich mir einen halben Tag frei und fahre mit der Schnellbahn eineinhalb Stunden lang nach Norden. An einer bestimmten Station steige ich aus.
Das Bahnhofsgebäude ist eine exakte Kopie des Bahnhofsgebäudes der vorigen Station. Die wiederum ist ein Klon des Bahnhofsgebäudes der vorvorigen Station. Irgendwann hat wohl ein Architekt ein Bahnhofsgebäude entworfen und gemeint, dieses Modell sei das Nonplusultra aller Bahnhofsgebäude, die Mutter aller Bahnhofsgebäude. Heute ist der Bahnhof viel zu groß und steht halb leer. Der Fahrkartenschalter ist durch einen Automaten ersetzt, der minimalistische Warteraum ist verwaist und Bahnhofsrestaurant gibt es seit Jahrzehnten keines mehr. Die meisten Fahrgäste, die an diesem Spätnachmittag im Dezember hier ankommen, steigen am Bahnhofsvorplatz in ihr Auto. Wenige nehmen einen der Busse, die mit zitternden Motoren warten. Kaum jemand macht sich zu Fuß auf den Weg. Bis auf mich. Ich gehe an der stillgelegten Zuckerfabrik vorbei, durch die leeren Gassen, passiere Vorgärten mit weißen und bunten Weihnachtslichtern, lasse den Kreisverehr hinter mir und wandere am Straßenrand, entlang einer Pappelallee. Links die kleine Kapelle mit der ewig brennenden Kerze, rechts eine Hinweistafel, die bedauert, dass ich soeben Niederösterreich verlasse.
Die orange-rote Winterabendsonne duckt sich hinter die Silos der stillgelegten Zuckerfabrik. Es wird dunkel. Ich biege in den Waldweg ein. Wildschweine haben die Erde aufgewühlt, der Regen hat die aufgewühlte Erde in Matsch verwandelt und der Frost hat den Matsch zu Eis gefroren. Der Weg ist holprig. Seit dem Kreisverkehr bin ich keinem Menschen mehr begegnet. Hier im Wald höre ich auch keine Autos mehr. Manchmal raschelt es im Unterholz. Der Wind rauscht durch die kahlen Äste der Bäume. Aus der Ferne ist noch das leise Brummen eines Baggers zu hören. Auch dieses Geräusch wird bald von vom Wald verschluckt. Der Weg führt mich nach einigen Gabelungen an den Fluss. In seiner Mitte verläuft die Grenze zur Slowakei. Fast fünfzig Jahre lang, bis zum Ende des Ostblocks, war hier die Welt zu Ende, und das war einer der Gründe dafür, dass auf beiden Ufern breite Streifen Auwaldes stehen blieben. Heute verbindet eine schmale Brücke Österreich mit der Slowakei. Ich wechsle auf die andere Seit und gehe am linken Ufer entlang bis zur Einmündung der Thaya in die March. Hier gibt es einen Punkt, wo Slowakei, Tschechien und Österreich aufeinandertreffen, getrennt durch jeweils wenige Meter Wasser. Knapp am Ufer stehen einzelne Fischerhütten. Bretterbuden auf Stelzen, Fenster und Türen mit Läden verriegelt. Wie im Winterschlaf stehen sie da, und hören mit geschlossenen Augen dem Glucksen des sanft dahinströmenden Wassers zu. Es ist nicht wirklich Wildnis. Aber in dieser kalten Dezembernacht bin ich so weit von menschlichen Ansiedlungen entfernt, wie man nach eineinhalb Stunden Fahrzeit aus der Stadt nur sein kann. Die Geräusche der Zivilisation sind ausgedämpft. Stille umgibt mich. Aber es ist keine leere Stille. Es ist eine Stille, die den kleinen Geräuschen den Vortritt lässt: Dem schelmisch murmelnden Wellenschlag des Flusses. Dem heiseren Flügelschlag der Gänse. Dem zurückhaltenden Knacken des Eises. Den fragenden Rufen einer Eule. Dem Raschen der Schneekristalle auf den dürren Stauden, wenn eine Windböe sie streift.