
Klaus Schnedl
1941–2023
Im Keller meines Elternhauses steht ein alter Spind. Ein Fach dieses Spindes war vollgefüllt mit Salz- und Pfefferstreuern, die mein Vater, Klaus Schnedl vor ein paar Jahren aus Holz und Glasgefäßen gebastelt hat. Jeder Holzteil ist aus verschiedenen Holzarten zusammengeleimt: dunkles Holz, helles Holz, Eiche, Esche, Buche. Jeder Salz- und Pfefferstreuer ein Unikat, von der Hand meines Vaters zurechtgesägt, geschliffen und poliert. Um an die Glasgefäße zu kommen, betrieb mein Vater einen großen Aufwand: Er suchte in Fachgeschäften für Labor- und Gastronomiebedarf um dort die genau passenden Eprouvetten, Glasfläschchen und Behälter zu bestellen.
Mein Vater hatte vor, diese Salz- und Pfefferstreuer auf dem Weihnachtsmarkt zu verkaufen. Nicht um damit reich zu werden – die paar Euro, die er dafür verlangt hätte, hätten nicht einmal die Materialkosten gedeckt. Vom Arbeitsaufwand ganz zu schweigen. Sein Lohn war die Freude an der Arbeit mit dem Holz, die Freude am Gestalten und am Werken, und diese Freude wollte er anderen Menschen mitgeben. Der Tod hat ihn davon abgehalten, den Plan umzusetzen.
Mein Vater wollte die Welt ein Stück schöner und lebenswerter machen. Er war immer ein klein wenig extravagant. Aber nicht um der Extravaganz willen. Und schon gar nicht, weil er provozieren wollte. Er gab sich einfach so, wie er es richtig fand. Auch wenn es so gar nicht der Mode oder dem Zeitgeist entsprach.
Sein erstes Auto war ein Oldtimer, ein englischer, offener Sportwagen. Ein MG, den er liebevoll Donaldo Furioso nannte. Nicht besonders gut in Schuss, aber auffällig genug, dass sich wohl jeder auf der Straße nach ihm umdrehte.
Als er meine Mutter Heidi heiratete und Kinder bekam, war die Zeit der schnittigen Zweisitzer vorbei. Jahre später legten sich meine Eltern einen Citroen Typ H zu. Ein klassischer französischer Lieferwagen, kantig und ausdrucksstark, den er zu einem Campingwagen umbaute, grün lackierte und dem er einen Steirischen Panther aufs Reserverad malte.
In unserer Familie nannten wir den Wagen „Kotter“. Jahrelang fuhren meine Mutter und mein Vater im Urlaub in ihm durch Frankreich und durchs Waldviertel. Immer mit unserem Hund. Und manchmal waren auch wir Kinder mit dabei. Der Kotter war laut und langsam und wenn er über die Landstraßen fuhr kamen wir uns vor wie in einem Film von Jacques Tati.
Jacques Tati, der großartige französische Filmemacher. Mein Vater hat seine Filme sehr geschätzt. „Mon Oncle“ war sein Lieblingsfilm. Darin versucht der Held des Films, Monsieur Hulot , mit den Veränderungen der Welt zurechtzukommen. Mit einer Welt, die auf Effizienz setzt statt auf Individualität, auf Sterilität statt Sinnlichkeit. Eine Welt, die Schlampigkeit durch Glätte ersetzen möchte und doch immer wieder scheitert.
Mein Vater hatte viel gemein mit dieser Kunstfigur des Monsieur Hulot. Wie Monsieur Hulot stand er stets ein wenig außerhalb. Ein Individualist wider Willen. Ein Mensch, der es gut meinte und doch immer wieder Fehler machte. Ein Mensch, der an allem interessiert war und gleichzeitig immer ein wenig skeptisch blieb. Konservativ, auf sympathische und freundliche Art. Andererseits ein Mensch, der mit kindlicher Neugier in die Welt blickte. Für meinen Vater war das kein Widerspruch.
In seinen späteren Jahren schrieb mein Vater Gedichte. Kleine Sonette über alltägliche Beobachtungen. Ein paar davon zeigte er mir. Die meisten behielt er für sich und sammelte sie in einer Mappe. In dieser Mappe fand ich auch einen kurzen Text, ohne Überschrift, nur mit der handgeschriebenen Nummer „65“ versehen. In diesem Text schreibt er über einen Mann, der zweifellos er selber ist.
Er schreibt Gedichte. Es sind Gedichtfragmente, die er um vier Uhr morgens an einem Stehpult in seinen Computer tippt. Anfänge, Schlusszeilen, Mittelstrophen. Später – Tage, Wochen oder Monate später – ruft er sie. Er lässt sie auferstehen und bearbeitet seine Einfälle, verschiebt Wörter, ändert, ergänzt, streicht, speichert, um später wiederum an ihnen zu feilen.
Mit den Sonetten protestiert er. Es ist seine Art des Widerstandes gegen Vergänglichkeit, gegen Oberflächlichkeit, gegen den Zeit-Ungeist, wie er es nennt. Nach einem dreiviertel Jahrhundert hat er das Recht dazu, sagt er. Das Recht, den Fortschritt und alle Errungenschaften zu nützen und doch die Werte seiner Vergangenheit zu verteidigen.
Mein Vater hatte Träume. Manche davon blieben Träume, wie die Autoreise von Alaska nach Feuerland. Andere wurden wahr, wie das Haus am Meer. Er versuchte sich in vielem, aber wenn er einmal wusste, wie etwas ablief und funktioniere, und wenn sich Routine einstellte, interessiert er sich für andere Dinge. Die Welt war groß. Die Welt war vielfältig. Sich nur EINEM Aspekt dieser Welt zu widmen, das war ihm nicht möglich.
Als 16jähriger lief er von zuhause weg und fuhr per Autostopp in die Fremde. In Bonn wurde er von der Polizei aufgegriffen und nach Hause geschickt. Das war einem Leobner Lokalblatt sogar eine Notiz wert. Der Redakteur schrieb, dass mein Vater wahrscheinlich zur französischen Fremdenlegion wollte, aber das stimmte nicht. Mein Vater wusste wohl selbst nicht, was er wollte. Er wollte sich die Welt anschauen, sehen, was es wo anders gab.
Er zeichnete Cartoons und Karikaturen im klassischen Stil. Nachdem sein erster Cartoon in einer Zeitung abgedruckt worden war, beendete er seine Karriere als Zeichner.
Stattdessen eröffnete die erste private Galerie in Leoben. Er besuchte seine Lieblingskünstler und kaufte ihnen Bilder ab. Wiederverkauft hat er davon nur wenige. Er blieb stets sein eigener bester Kunde und so wuchs ich in Wohnungen auf, in denen Bilder an den Wänden zur Selbstverständlichkeit zählten.
Mein Vater wollte wissen, wie Messing-Guss funktioniert. Also konstruierte er sich einen Schmelzofen. Er experimentierte um die richtige Hitze zur Messingschmelze zu erzeugen. Er fertigte Gussformen für Gürtelschnallen an. In Form in sich verschlungener hervortretender Initialen der Familienmitglieder. Er besorgte sich von irgendwoher leere Patronenhülsen aus Messing und schmolz sie zu Gürtelschnallen um. Jeder in unserer Familie bekam seine Gürtelschnalle aus Messung. Mein Vater wusste nun, wie das das mit dem Messingguss funktionierte. Seine Ambitionen waren erfüllt und von nun an blieb der Schmelzofen kalt.
Lange bevor Internet-Foren und Social Media erfunden waren, gründete er eine Leserbriefzeitung für Murau. Jeder, der wollte, konnte darin veröffentlichen was er oder sie für wichtig und mitteilenswert hielt. Gedruckt wurde es auf grauem Recyclingpapier, Layout und Grafik stammten von meinem Vater. Nach ein paar Ausgaben wurde die Zeitung eingestellt – die Zeit war noch nicht reif dafür.
Er liebte es, in der Mur fischen zu gehen. Er war gerne am Wasser. Er beobachtet, wie die Fische sich hinter Steinen versteckten, wie sich die Fliegen von der Wasseroberfläche schnappten. Er genoss das Rauschen des Wassers. Er genoss den Geruch des Flusses, den er auch von seinen Fischzügen mit nach Hause brachte. Die Fische mit der Angel aus ihrer nassen Umgebung zu ziehen und sie zu töten – das war nicht schön, aber das gehörte eben zum Fischen dazu. Als er älter und gefühlvoller wurde, wollte er das nicht mehr. Er wollte keine Fische mehr quälen und er hörte mit dem Angeln auf.
Die Nähe des Wassers liebte er nach wie vor. Und so erfüllte sich einen weiteren Traum: Er baute sich ein Boot aus Holz. Ein seetüchtiges Boot mit Kajüte und Mast. Jahrelang arbeitete er daran, im Garten in Murau, fernab vom nächsten Meer oder auch nur vom nächsten größeren See. Als er das fertige Boot tatsächlich in die Bretagne und in den Atlantik brachte, dann schwamm es dort auch wirklich auf dem Wasser. Mein Vater hatte sein Ziel erreicht, er hatte einen Traum erfüllt, den er seit seiner Jugendzeit gehabt hatte. Es war das letzte größere Projekt, das er verwirklichte – der alte Mann und sein Boot.
Frankreich war immer schon das Land seiner Sehnsucht. Auch als er sich endgültig in Murau niederließ und gemeinsam mit meiner Mutter ein Haus baute – ganz nach seinen eigenen Vorstellungen. Er war bereits in der zweiten Lebenshälfte, als er ernsthaft und mit Erfolg Französisch zu lernen begann. Er las Simenon, Camus und Françoise Sagan im Original. Er korrespondierte auf Französisch mit Freundinnen und Freunden in Frankreich, er lebte ein Jahr lang in der Bretagne und weil es ihm dort so gefiel, verbrachte er fortan fast alle Sommer mit meiner Mutter in der Bretagne. Dort fand er Ruhe, mit Blick aufs Meer, mit den täglichen kleinen Routinen und eingebettet in die französische Lebensart. Aber lassen wir ihn selber zu Wort kommen, in einem Sonett, dass er über seinen Alltag im Ruhestand in der Bretagne geschrieben hat.
Der Gang zum Bäcker ist mir Gewohnheit geworden
Tägliches Gehen in der Morgenluft
Am Rückweg begleitet vom Duft
Des Brotes. Einen guten Tag verspricht so ein Morgen
Frischer Kaffee in die Kanne:
Fein gemahlen, mit Zucker kalt
Zugestellt. Wenn das Wasser wallt
Ist er fertig. Ich trink ihn mit Sahne.
In aller Ruhe setze ich mich hin
Esse warme Baguette und blicke auf das Meer
Das Leben ist schön, so hat es Sinn.
Das Frühstück, ich genieße es sehr.
Wichtig ist des Tages Beginn.
Was dann kommt, zählt kaum mehr.
Wenn ich an meinen Vater denke, dann habe ich kein einheitliches Bild vor Augen. Dann sehe ich ein Mosaik aus Bildern, die nicht selten miteinander im Widerspruch stehen. Und jeder von euch, von Ihnen hat wieder andere Bilder im Kopf, hat andere Facetten dieses Menschen Klaus Schnedl in Erinnerung.
Aber vielleicht war es nicht mein Vater, der voller Widersprüche war. Es ist die Welt, die voller Widersprüche ist. Und mein Vater lebte in dieser Welt. So wie wir es auch tun. Er musste mit dieser Welt zurechtkommen, und zum großen Teil hat er es ganz gut geschafft. Ja, ich traue mich zu sagen: Er hat ein gutes Leben gehabt.


