
Die kahlen Bäume sind schwarze Skelette, die sich mit einem Leichentuch aus Schnee bedeckt haben. Dazwischen weißborkige Pappeln wie freundliche Gespenster. Der Wald hat sich verkleidet. Die Welt geht inkognito. Die Wege sehen aus wie noch nie begangen. Ich folge einer Wildschweinspur. Sie führt mich ans Wasser, dort kommen Dutzende Spuren zusammen. Wildschweine und Rehe, Hirsche, Füchse und vielleicht auch Dachse.
Der Zauberschüler Harry Potter hatte eine „Marauder’s Map“, auf der er die Wege aller Bewohner Hogwarts sehen konnte. Die Schneedecke in der Lobau ist so eine Marauder’s Map. Die Spuren im Schnee verraten, wer in den letzten Stunden hier vorbeikommen ist und wo er oder sie hinwollte. Manchmal führen die Spuren schnurstracks geradeaus. Andere schlagen Haken, bummeln herum. Eine Tierspur zu folgen, heißt, selbst zum Tier zu werden. Zumindest ein klein wenig. Denn warum Reh und Wildschwein, Hirsch, Fuchs und vielleicht auch Dachs dort hinwollten, wo sie hingingen, das bleibt ihr Geheimnis. Menschenwege kümmern sie nicht. Sie haben ihre eigenen Wege durch Dickicht und durchs Unterholz. Und sie blieben – ich sehe es mit Genugtuung – den Jägerhochsitzen fern, die allenthalben am Rande der Lichtungen stehen.



