
Finistère, das Ende der Welt. So heißt diese Landschaft, ganz im Westen Frankreichs. Das saftige, etwas träge Grün der Bretagne wandelt sich in borstige Heide aus gelb blühendem Ginster, ruppigem Farn, Heidekraut in Violett, Lila und Rose und dazwischen stacheliges Brombeergestrüpp. Dichte Vegetation, die den kargen Boden wie ein Kettenhemd bedeckt. Nicht einmal ein Fuchs kann sich hier durchzwängen.
Für uns Menschen gibt es Trampelpfade, die an die schroff abfallende Küste führen. Du stehst über den Felsen und blickst hinaus auf das tiefblaue Meer. Das Meer wirft Wellen ans Ufer, Berge aus Wasser mit weißen Gipfeln, die am Fels nagen. Das Meer hat Zeit. In hunderttausenden von Jahren wird das Meer den Fels zu feinem Sand zermalmt haben. Das Meer ist immer der Gewinner. Manchmal aber lässt es auch Gnade walten – vorübergehend. Denn an diesen Ufern ist die Alte Welt noch nicht ganz zu Ende. Weit draußen hat das Meer wie aus einer Laune heraus kahle Felsen übriggelassen, die kantig aus dem Wasser ragen. Letzte Überreste eines alten Gebirges. Und noch weiter draußen die Insel Île de Sein. Vom Land aus nicht zu sehen, bewohnt von knapp 300 trotzigen Sénans, wie sie sich die Inselbewohner nennen. Es keine Französinnen und Franzosen. Es sind auch keine Bretoninnen und Bretonen. Es sind Sénans.
Als ob es nicht reicht, Bretonin oder Bretone zu sein: Eigensinnig, starr und dickköpfig sollen sie sein, die Bewohner von Finistère. Den Iren, Walisern und auch die Bewohnern Cornwalls stehen den Bretoninnen und Bretonen näher als den Restfranzosen oder gar den Parisern. Nur ist die Bretagne mit dem Rest Frankreichs verwachsen und nicht rundum von wildem Meer umgeben wie die Île de Sein. Es gab keine natürliche Barriere, und die Bewohner blieben nicht lange unter sich. Den Menschen der Jungsteinzeit folgten die Kelten, die ihrerseits von den Römern überrollt wurden und schließlich kam Karl der Große, das westfränkische Reich, das Königreich Frankreich und die Republik. Es ist schwer zu sagen, was urbretonisch ist. Ist es die bretonische Sprache, die kaum mehr jemand spricht? Die kam erst mit Einwanderern von den britischen Inseln in die Bretagne. Sind es die steinzeitlichen Menhire und Dolmen, die überall in der Gegend herumstehen? Die heutigen Bretonen schenken ihnen kaum Beachtung. Die Menhire dürfen stehenbleiben, solange sie nicht stören. Wenn du sie als Tourist sie sehen willst: Bitte sehr. Du muss sie aber selber suchen. Oder du stolperst auf deinen Wanderungen über einen Menhir, der unversehens aus dem Farn ragt. Extra darauf hingewiesen wirst du nicht.
Selbst der Name der Landschaft ist eine Fremdzuschreibung. Finis Terrae, das Ende der Welt – so haben die Römer die Gegend genannt, schaudernd vor der Erhabenheit und der Weite und des Atlantik, der so viel wilder ist als das Mittelmeer. Die Bretonen haben eine anderes Wort für ihre Heimat: Penn ar Bed, was so viel heißt wie: Anfang der Welt. Oder auch: Haupt der Welt.
Auch heute noch kommen die Fremden. Und zwar in Massen. Sie kommen nicht als Eroberer und auch nicht als Händler, sie kommen als Touristen aus dem zu heißen Paris und aus dem kalten Deutschland und sie verteilen sich entlang der Küste wie Strandflöhe. Die Côte de Granit Rose, die rosafarbenen Felsen am Nordrand der Bretagne, die auf Fotos so richtig wild und urtümlich aussieht – sie wirken vor Ort wie ein Abenteuerspielplatz für Familien und Jugendgruppen. Nein, das stimmt so nicht: Du findest immer wieder Plätze, die ihre Magie dir und dir allein offenbaren. Plätze, an denen zwischen warmen, glitzernden Granitfelsen ins Meer steigst, die Kühle des Wassers auf der Haut, den würzigen Geruch des Tangs in der Nase, den salzigen Geschmack auf der Zunge und den Blick auf diese blaue Weite vor dir.
So wie sich die resche Kruste eines frischen Baguettes fundamental vom weichen Inneren unterscheidet, so unterscheidet sich die raue Küste der Bretagne vom Landesinneren. Die Attraktionen werden seltener, weniger spektakulär. Dafür triffst du auf Landschaften der Imagination. Im Wald von Brocéliande findest du die Heimat von Merlin, dem Zauberer und (in manchen Überlieferungen) Sohn des Teufels. Hier findest du den See, auf dessen Grund die Fee Viviane in einem Unterwasserschloss gewohnt hat. Hier findest du das Tal ohne Wiederkehr, in den die Fee Morgana untreue Liebhaber verbannt hat. Wie gesagt: Fürs Auge gibt es spektakulärere Orte. Aber der magisch-dichten Atmosphäre dieser Orte kannst du dich schwer entziehen. Wir übernachten dort in einem alten, etwas heruntergekommenen Herrenhaus. Die Stufen der Holztreppe ins Obergeschoss sind ausgetreten und windschief. Die Deckenbalken schwarz und rissig vom Alter. Am Treppenabsatz hängt das Ölbild einer Dame in weißer Kleidung. In manchen Nächten, so erklärt uns der Verwalter beim Frühstückskaffee, in manchen Nächten steige die Dame aus dem Bilderrahmen und wandle im Haus umher. Und überhaupt spuke es hier wie in keinem anderen Haus in Frankreich. Ob wir nicht die Poltergeister in der Nacht gehört hätten? Nein, haben wir nicht. Leider. Wir haben zu gut geschlafen.
Mein Vater hat die Bretagne geliebt und in ihrer Pension haben meine Eltern fast jeden Sommer hier verbracht. Sie haben Freunde gefunden. Sie haben das Essen und die besten Seiten der französischen Lebensart genossen. Am 26 Juni ist mein Vater verstorben. Ich habe eine kleine Stahlkapsel mit etwas Asche meines Vaters mit in die Bretagne gebracht. Auf der Übfahrt auf die Île de Sein werfe ich sie ins Meer. Nun liegt sie am Meeresgrund in der Bucht vor Audierne, gar nicht weit entfernt von der Baie des Trépassés, der wilden Bucht, in der – der Legende nach – die Seelen der Verstorbenen auf das Totenschiff warten, das sie ins Jenseits bringt, in das Land hinter dem Ende der Welt: Finistère



















